Zum Start in die neue Woche haben wir einen tollen Zeitungsartikel der Gießener Allgemeine Zeitung. Christoph Hoffmann hat uns bei einem Spaziergang besucht und einen schönen Artikel über uns geschreiben:
Gießen (chh). Anouk Schmitt sitzt seit zwei Jahren im Rollstuhl. Schuld ist eine missglückte Impfung. Wobei die 23-Jährige nicht von Schuld sprechen würde. Zu negativ. Nie würde ihr »an den Rollstuhl gefesselt« über die Lippen kommen. In ihrem Blog, den die Gießenerin mit Freund Lukas Kapfer betreibt, versucht sie das Positive zu sehen.
Eins zu 10 Millionen: So klein ist die Wahrscheinlichkeit, nach einer Hepatitis-Impfung im Rollstuhl zu landen. Anouk hatte Pech. Sie war die Eins. Schon kurz nach der Spritze fühlte sie sich schlapp. Aber hey: Es war Herbst, alle Welt war erkältet. »Aber dann fingen meine Beine an, wahnsinnig weh zu tun. Meine Hände zitterten wie verrückt, ich konnte keinen Stift mehr halten.« Es wird schon nichts Schlimmes sein, redete sich Anouk ein. Doch dann das: »Ich wollte mir in der Küche einen Kaffee kochen, als ich plötzlich meine Beine nicht mehr gespürt habe. Dann knickten sie einfach zusammen. Wie Streichhölzer.« Der nächste Arzt wurde fündig: Die Hepatitis-Impfung hatte zum Ausbruch einer Autoimmunerkrankung geführt, die Ähnlichkeit mit Multiple Sklerose hat. Anouks Rückenmark entzündete sich, beim Sitzen spürte sie ihren Po nicht mehr. Dann folgten die Beine.
Heute, zwei Jahre später: Anouk fährt mit ihrem Rollstuhl über einen Feldweg am Rande des Bergwerkswalds. Anschieben braucht sie nicht, Australien-Shepherd-Dame Frieda fungiert als Schlittenhund. »Wir haben schon 30 Kilometer pro Stunde geschafft«, sagt Anouk stolz, zieht dann aber an der Leine, damit Lukas mithalten kann. Lukas ist 24 und der Freund von Anouk.
Es ist ein dreiviertel Jahr her, dass Lukas nach einer Rücken-OP in der Physiotherapie trainierte und dabei auf Anouk traf. Die beiden waren die einzigen junge Leute in der Praxis, sie lernten sich kennen – und kamen sich näher. »Lukas hat mich ganz normal behandelt. Er hat gar nicht gefragt, warum ich sitze. Ich habe es ihm dann bei unserem fünften oder sechsten Treffen erzählt«, erinnert sich Anouk. Lukas hätte es nicht besser machen können: Denn Anouk kann es nicht ausstehen, wenn Leute mit der Tür ins Haus fallen: Warum sitzt du im Rollstuhl? Kannst du normal aufs Klo gehen? Wie sieht es mit Sex aus? »Dass Lukas anders war, hat ihn mir unglaublich sympathisch gemacht.«
Für Lukas war der Rollstuhl kein Hemmnis, weil er ihn kannte. Der Gießener arbeitet als Koordinator beim Rollstuhl-Basketballverein RSV Lahn-Dill. »Der Rollstuhl gehört für mich zum Alltag«, sagt Lukas. Und wie es nun mal ist: Alltägliches nimmt man irgendwann einfach nicht mehr wahr. Zum Beispiel beim Autofahren. Anouk muss lachen: »Es kommt regelmäßig vor, dass Lukas vergisst, den Rollstuhl einzuladen. Ich muss ihn dann erinnern: Hast du nicht etwas vergessen?«
Diese Unbekümmertheit teilen die wenigstens – was peinliche, aber auch schmerzhafte Situationen zur Folge hat. »Wenn ich von meinem Freund erzähle, gehen die meisten davon aus, dass er auch im Rollstuhl sitzt«, sagt Anouk. Erzählt sie dann, ihr Freund sei Fußgänger, sind ihre Gesprächspartner völlig aus dem Häuschen. »Wie toll, die beschädigte Ware hat einen Normalo abgekriegt.« Steht Anouk an der Supermarktkasse, blickt die Kassierin automatisch zur Person hinter Anouk – eine Rollstuhlfahrerin kann schließlich nicht alleine eine Tüte Milch kaufen. Am Schlimmsten findet Anouk aber, dass Sie für die alltäglichsten Dinge Anerkennung bekommt. »Wenn ich im Club bin, kommt immer irgendein Typ und erzählt mir, wie toll er es findet, dass ich trotz Rollstuhl feiern gehe.« Eine Rollstuhlfahrerin, die studiert? Für viele Kommilitonen eine herausragende Leistung. Im Rollstuhl shoppen gehen? Sensationell! »Ich werde für Dinge gelobt, für die ich gar nicht gelobt werden möchte. Weil sie für mich ganz normal sind.«
Über diese und viele andere Themen schreibt Anouk in ihrem Blog www.th-10.de. Der Name ist Programm: Die 23-Jährige ist ab dem zehnten Brustwirbel (Thorax) inkomplett querschnittsgelähmt. Während Anouk und Lukas über den Feldweg schlendern, erzählen sie von den Anfängen ihrer Schreibversuche. Natürlich war es ein Schock für Anouk, als der Arzt ihr offenbarte, sie werde wahrscheinlich fortan im Rollstuhl sitzen. Aber sie wollte nicht einsehen, ihr ganzen Leben aufzugeben. »Ich habe dann im Internet recherchiert und bin auch auf einige Blogs von Rollstuhlfahrern gestoßen. Aber die waren furchtbar. Die meisten schreiben, das Leben mache keinen Sinn mehr.« Anouk wollte anders in die Zukunft blicken. »Ich habe mir gesagt: Wenn ich den Punkt überwunden habe, alles scheiße zu finden, dann schreibe ich darüber. Ich wollte zeigen, dass das Leben auch mit Rollstuhl richtig schön und lustig sein kann. Man kann essen gehen, feiern, verreisen. Alles kein Problem. Das Leben mit Rollstuhl ist nicht schlechter – man muss nur ein bisschen besser planen.«
Seit drei Monaten schreibt Anouk jetzt den Blog. Die Resonanz ist überwältigend. Lukas, der sich um die technische Umsetzung kümmert, spricht von über 100 000 Seitenaufrufen. »Ich dachte, nach ein zwei Monaten bedanken wir uns bei Oma und Opa fürs Lesen und das wars. Stattdessen werden wir regelmäßig von Fremden angesprochen und gelobt.« Anouk fügt an, dass es natürlich schön sei, anderen Rollstuhlfahrern Mut zu machen, am meisten freue sie sich aber über Feedback von Fußgängern – in der Hoffnung, mehr Verständnis und Feingefühl zu säen.
Anouk schreibt in ihrem Blog über alles Mögliche: Ihr Medizinstudium, Städtetrips, den neuen Rollstuhl. Natürlich auch über die Fortschritte mit Hündin Frieda, die inzwischen sogar Münzen aufheben und Frauchen auf den Schoß legen kann. Ihre positive Einstellung zeigt sich auch in Einträgen über das Impfen. Sie hätte jedes Recht dazu, die Spritzen zu verteufeln. Stattdessen schreibt sie: »Die Wahrscheinlichkeit, an dieser Autoimmunerkrankung zu erkranken, ist Eins zu zehn Millionen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass fast 10 Millionen Menschen vor Hepatitis geschützt werden.« Es finden sich aber auch Einträge, die nachdenklich machen. Zum Beispiel, wenn Anouk schwärmt, im Freibad endlich keine Angst mehr haben zu müssen, auf eine Biene zu treten. Oder die tauben Beine ins kalte Wasser stecken zu können, ohne dabei zu frieren. Anouk muss kurz überlegen. Dann räumt sie ein: »Wenn mich etwas sehr berührt, neige ich dazu, ins Ironische zu verfallen. Wenn ich es zu sehr an mich heranlasse, wird es vielleicht realer, als ich es empfinde.«
Es finden sich aber auch Blogeinträge, die voller Hoffnung sind. Zum Beispiel, wenn Anouk über den Re-Walk schreibt. Ein System, das die Beine von Querschnittsgelähmten stabilisiert und sie laufen lässt. Wenn auch nur für ein paar Schritte. »Am Anfang dachte ich, das sei eine Spielerei. Inzwischen bin ich aber total begeistert.« Zum einen sei es gut für ihre Organe, Muskeln und Gelenke. Noch wichtiger sei der Re-Walk aber für den Kopf. »Es war Wahnsinn, als ich das erste Mal neben Lukas stand. Sehr emotional.« Dann blickt sie zu ihrem Freund hinüber und grinst: »Wir sind fast gleich groß.« Auch Lukas lächelt: »Wir kochen gerne zusammen. Durch den Re-Walk kann Anouk neben mir am Herd stehen und endlich einen Blick in die Kochtöpfe werfen.«
Anouk, Lukas und Frieda schlendern noch ein wenig durch den Wald. Ob Anouk jemals wieder laufen wird, wissen die Ärzte nicht. Durch den Re-Walk kann sie ihren Mitmenschen künftig aber immerhin auf Augenhöhe begegnen. Dann auch endlich körperlich.
Ein wirklich schöner Artikel. Danke dafür.
Hey Anouk hier ist sina, dein Blog ist toll, ne super Idee, sowas zu machen…?
LG Sina
Und Oskar
Ein herzliches SERVUS Ihr Beiden(bzw. Drei) aus Oberösterreich
Ich sitze seit 11 Jahren mit ner kampletten Paraplegie TH12! Ich wurde auch immer aufegfordert einen Blog zu schreiben! Auch wenn ich pflegetherapeutische Vorträge halte und auch in dem Bereich ksotenlos arbeite (www.quer-schnitt.net) – so herzerfrischend zu schreiben, wie Ihr es tut, des kann I nid! Das bin ich auch nicht! Darum freue ich mich sehr dankbar über Euren Blog! Schön dass es Euch gibt und Ihr uns an Eurem Leben teilhaben lasst!
Mit ganz liab´m Gruß
da Richard
Hey Richard,
Vielen Dank für Deine lieben Worte. Ja Du hast recht: Es gibt viel zu wenige Blogs, welche zeigen, dass das Leben auch mit Rollstuhl wunderschön sein kann.
Viele Grüße!