Schon als Kind war kein Baum, kein Klettergerüst, kein Schaukelgestell vor mir sicher. Überall musste ich hochklettern, alles selbstständig erkunden und irgendwann von oben nach unten winken und mich unglaublich freuen, dass ich es geschafft hatte. Einen hohen Baum bezwungen, oder in einer scheinbar aussichtlosen Situation, doch einen Weg gefunden zu haben, macht wahnsinnig stolz und half mir als Kind zu einem gesunden Maß an Selbstvertrauen, das ich natürlich nur dank meiner Eltern erwerben durfte. Trauten sie mir doch zumeist alles zu und teilten mir nur selten ihre Zweifel oder Ängste mit, dass ich etwas nicht schaffen könne. Natürlich erklomm ich nicht alles beim ersten Versuch, aber auch Stürze gehören dazu. Wie im wahren Leben.

So kam es, dass Klettern zu meiner Leidenschaft wurde. Nicht unbedingt nur an extra Kletterwänden, sondern auch in Kletterparks, Hochseilgärten, oder einfach so. Doch seitdem ich im Rollstuhl sitze war damit Schluss. Wie soll ich denn klettern, wenn ich die Beine dazu nicht gebrauchen kann? Lange Zeit versuchte ich mich absolut nicht mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Zu groß war der Schmerz, den es mit sich brachte. Bis ich eines Tages auf Instagram Bilder von einer jungen Frau sah, die an einer Kletterwand kletterte und die eine ähnliche Lähmungshöhe wie ich hat. Ja, zugegebener Maßen sah es nicht sportlich-leicht aus, aber sie hatte ein Ziel vor Augen und erreichte auch genau dies! Ich war begeistert. Wenn sie das kann, dann müsste ich das doch auch können. Irgendwie. Einzig und allein meine Rumpfmuskulatur machte mir noch Sorgen. Auch, wenn ich erst ab dem Bauchnabel gelähmt bin, ist meine Bauchmuskulatur oberhalb der Lähmung trotzdem nur sehr gering ansteuerbar, wodurch ich ziemlich instabil bin und deshalb ja auch eine höhere Rückenlehne am Stuhl habe. Ich konnte mir noch nicht genau vorstellen, wie das bei mir aussehen sollte und daher brauchte es auch noch ein paar Wochen mentale Vorbereitung, bis ich so weit war, dass wir zusammen in ein Kletterzentrum fuhren.

Zuvor hatte ich mit einer coolen Gruppe an jungen Leuten telefoniert, die dort extra Kletterkurse geben und sich bereit erklärt hatten, uns bei unserem ersten Versuch zu unterstützen. Sie selbst waren total interessiert, wie ich das hinbekommen könnte und deshalb trafen wir uns schließlich zu fünft, jeder voller toller Ideen und Ratschläge und wir alle schwer motiviert! Es war unglaublich toll, alles gemeinsam auszuprobieren und einen eigenen Weg zu finden.
Daher kamen wir auch auf die Idee mit den Schlaufen, die ich um meine Füße wickelte und so an einem Karabiner vor meinem Bauch befestigte, sodass ich meine Füße, durch ziehen an den Schlaufen, nach oben bewegen konnte – quasi wie Marionetten. Wir wurden genauestens eingewiesen, das hatte ich nämlich seit meinem letzten Kletterkurs mit ca. 10 Jahren leider wieder alles vergessen und dann durften wir loslegen. Wir entschieden uns in der Gruppe zunächst für die einfachste Route. Hey, klingt ja super, kinderleicht. Ich fuhr zu der Wand, schaute noch oben und musste schlucken. Vor mir ragte eine ca. 16 Meter hohe Wand in die Höhe, übersäht mit unglaublich vielen bunten Klettergriffen in allen erdenklichen Formen und Größen. Ich suchte mir meine Route raus. Ok, also nur die schwarzen Griffe benutzen. Kolja kam an meine Seite, zusammen wollten wir die erste Wand bezwingen. Denn alleine ist es irgendwie schwer, sich gleichzeitig mit einer Hand festzuhalten und mit der anderen Hand die Füße zu koordinieren und aufzusetzen. Doch zusammen klappte das viel besser, als ich es mit vorgestellt hatte. Kolja setzte meine Füße, während ich damit beschäftigt war, mich festzuhalten und wirklich nur die schwarzen Griffe zu benutzen. Zwei Mal machte ich eine kurze Verschnaufpause und setzte mich ins Seil, bevor ich endlich das Ziel erreichte. Unbeschreiblich! 30 Meter hochgeklettert zu sein und fast nur aus der Kraft meines Oberkörpers. Und trotz der Schwäche in meiner linken Hand und meinem Arm funktionierte das ziemlich gut. Was ich jedoch am nächsten Morgen für einen Muskelkater in den Schultern hatte, brauche ich wahrscheinlich nicht erwähnen!

Aber, ich war an diesem Tag nicht satt zu kriegen und musste natürlich deshalb auch gleich noch eine zweite Strecke ausprobieren. Hätte nicht sein müssen, weiß ich im Nachhinein, weil das definitiv zu viel war für meinen Körper, aber in diesem Moment war ich wie ein kleines Kind. Also suchten wir uns eine etwas schwerere Route raus, verbesserten nochmals unsere Schlaufen-Technik und ich kletterte zusammen mit Maren ein weiteres Mal 30 Meter in die Höhe, während Kolja und Ann-Kathrin mich sicherten. Ich sage es wirklich selten, aber in diesem Moment kam die einschießende Streckspastik wie gerufen. (Weil ich leider für einige Leser nochmals erwähnen muss, dass es sich bei dem „Spastik kommt von Spaß“-Artikel um Ironie gehandelt hat). Normalerweise ist sie ein kleines Miststück, aber nun konnte ich sie gezielt einsetzen, wenn sie schon mal da war. Denn so hingen meine Beine nicht mehr leblos an der Wand herunter, sondern streckten sich vollkommen durch, wodurch ich den Kraftaufwand in meinem Oberkörper reduzieren konnte, da ich nun quasi Auftrieb hatte. Ok, ich sollte dazu erwähnen, dass ich dafür auch an der Wand ab und an wie blöd herumzappelte, aber was solls. Ich konnte es in diesem Moment sowieso nicht ändern, also konnte ich auch versuchen, das wirklich Beste aus der Situation herauszuholen. Daher schaffte ich diesen Aufstieg noch schneller und Maren musste nur ab und an kontrollieren, ob meine Füße richtig auf den Griffen aufsaßen. Denn im Gegensatz zu Fußgängern, kann ich nicht nur meinen Vorderfuß auf die Griffe setzen, sondern muss immer die Ferse mit aufstellen, damit ich nicht nach unten wegsacke. Was natürlich dazu führt, dass ich wie ein Frosch an der Wand klebe. Aber auch das ist egal, denn ich bin oben angekommen und das Gefühl war am Ende nicht wirklich ein anderes, als früher. Ich hatte mir ein Ziel vorgenommen, was mir – und besonders auch anderen Menschen, unerreichbar erschien. „Anouk das schaffst du mit deiner Behinderung nicht“ – eben wohl! Ich habe es geschafft, es hat geklappt und am Ende zählt doch nur das Ergebnis. Also lasst euch nicht von anderen Leute einreden, was ihr könnt, oder nicht könnt. Versucht es selbst, egal um was es geht. Es muss ja nicht beim ersten Versuch gelingen, aber dann könnt ihr wenigstens sagen, dass ihr es versucht habt!