Vor einiger Zeit wurde ich von einer Bekannten gefragt, was sich in meinem Leben, seit ich im Rollstuhl sitze, für mich grundlegend geändert hätte. Ich habe damals sehr lange überlegt, was ich darauf antworten könnte. Ich könnte darüber reden, dass meine Beine nicht mehr laufen wollen, wie schwierig sich manchmal der Alltag gestaltet, weil meine Umgebung nicht barrierefrei ist, wie sehr mich meine Erkrankung manchmal nervt und wie viel ich durch meine Behinderung in meinem Leben bereichert worden bin. Ich hätte hunderte Dinge nennen können, anhand deren ich sagen würde, dass sich meine Leben grundlegend verändert hat. Aber stattdessen antwortete ich: „Dass sich andere Menschen eine Meinung zu mir und meinem Leben bilden und mir diese ungefragt mitteilen.“

Bevor ich im Rollstuhl saß konnte ich mir nicht vorstellen, wie elementar sich manche Dinge im Leben ändern würden. Aber niemals hätte ich geahnt, dass ich einmal so oft der Gegenstand von Gedankengängen anderer (fremder) Leute sein würde. Dass mir andere Menschen ungefragt Ratschläge und gut gemeinte Tipps geben würde, dass sie meine Handlungen und Taten kommentieren und für mich meine Zukunftsplanung übernehmen würden.

Dabei scheint der Rollstuhl für die meisten Menschen der Grund allen Übels zu sein. Er macht mich so verletzlich und hilflos. Plötzlich bin ich nicht mehr eine junge Studentin, sondern eine starke, junge Frau, die trotz ihres „Handicaps“ ihr Studium meistert. Es tut mir leid, aber ich kann mich damit nicht identifizieren und ich mag nicht für etwas bewundert und gefeiert zu werden, als Inspiration zu gelten, das heutzutage, glücklicherweise, vollkommen normal ist. Ja, ich sitze im Rollstuhl und ja, ich studiere. Lassen wir das Thema Barrierefreiheit einmal außen vor – wo also ist nun die Besonderheit? Das, was mich von der Masse abhebt? Neben mir studieren Kommilitonen, die schon Kinder haben, die ihre kranken Eltern pflegen, wo bleibt da die Anerkennung, dass diese Menschen „trotz“ der erschwerten Bedingungen ihr Studium meistern?

Es ist vollkommen egal, wie sich mein Leben ändert, was ich mache und tue, die Kommentare und Ratschläge anderer Personen sind mir sicher.

Da ist der Arzt in der Reha-Klinik: „Und Sie wollen wirklich studieren? Also ich meine ein Studium im Rollstuhl, das ist ja schon eine Herausforderung. Aber dann auch noch Medizin? Wie stellen Sie sich denn Ihre zukünftige Arbeitssituation vor? Wollen Sie nicht doch lieber eine Ausbildung machen? Was im Büro ist doch toll!“

Da ist meine Oma, die noch im Krieg aufgewachsen ist, wo es noch die „Reichsausschusskinder“ gab – kranke und behinderte Kinder deren man sich entledigte und die für Versuche mit Medikamenten herhalten mussten. Meine Oma, die zu mir sagte, nachdem ich ein halbes Jahr im Rollstuhl saß, dass ich ja wohl froh sein könnte, wenn ich überhaupt nochmal einen Mann fände, wenn sich denn jetzt noch einer für mich interessieren würde.

Da sind Dozenten an der Uni, die mir vorschlagen, dass Medizinstudium doch besser abzubrechen, weil ich dazu im Rollstuhl nicht in der Lage sei, denn „mit einer körperlichen Behinderung gehe auch immer eine geistige Einschränkung einher“.

Da sind Freunde und Bekannte, die mir empfehlen dies oder jenes jetzt zu tun, weil man bei meiner Erkrankung ja nicht wisse, wie es in einem Jahr aussehe.

Da sind die Zeugen Jehovas, die mir in der Fußgängerzone spannenderweise stets aus dem Weg gehen. Um diese Merkwürdigkeit einmal zu ergründen, sprach ich einen Zeugen direkt darauf an, woraufhin ich erfuhr, dass ich an meiner Behinderung selbst schuld sei. Ich hatte nicht genug an Gott geglaubt und das sei jetzt die Strafe Gottes.

Da sind fremde Menschen, die mich einfach anschreiben oder ansprechen, weil sie DIE Heilung für mich kennen. Bestimmt habe ich dieses Öl oder diesen Hokuspokus noch nicht ausprobiert und naja Schulmedizin wisse man ja, dass die nichts tauge. Aber man kenne einen Heiler, der bestimmt die negativen Energien aus mir herausholen könne.

Alles das ist genau so passiert und es gibt noch viele weitere Geschichten dazu. Leute, die es gut meinen und hinter ihren guten Absichten offensichtlich vergessen, mich zu fragen. Mich zu fragen, ob sie mir Tipps geben dürfen, ob ich Hilfe nötig habe. Sie sind wie diese Menschen, die mich an der Ampel ungefragt über die Straße schieben, weil sie meine Unaufmerksamkeit als Hilflosigkeit interpretieren und es doch nur gut meinen. Gut gemeint ist aber eben nicht immer gut gemacht. Doch es gibt Dinge, die mich dabei noch mehr verletzen, weil dabei eine Schwelle der Intimität überschritten wird, zu denen mein Rollstuhl, meine Behinderung, offensichtlich einlädt.

Ich war auf einem Geburtstag eingeladen und dort waren sehr viele Menschen, die ich nicht kannte. Umso schöner, so lassen sich viele neue Leute kennenlernen und oftmals spannende Gespräche führen. Voller Freude zeigte sich meine Gesprächspartnerin wieder einmal darüber, dass ich glücklich in einer Beziehung bin (anhand der Gestik und Mimik las ich heraus, dass ich „trotz“ Rollstuhl in einer Beziehung bin) und auch, dass ich studiere freute sie offensichtlich sehr. Bis dahin alles normal und keine Besonderheit erwähnenswert. Doch dann kamen wir, nachdem sie mir einiges aus ihrer Biografie erzählt hatte, zu meiner Lebensplanung. Ich erzählte, wo und ich wie später gerne arbeiten würde und dass ich aufgrund meiner Behinderung niemals eine volle Stelle schaffen würde (mitleidiger Blick von ihr), aber das für mich ok sei, so lange es finanziell passen würde. „Ja und sonst so?“, fragte sie. „Ich hätte gerne Kinder. So ein ganz banal spießiges Leben mit Haus mit Garten und Familie“, antwortete ich. Hätte ich gewusst, dass ich damit ein Fass öffne, ich hätte es einfach gelassen. Dafür war das eigentlich nur einmal Smalltalk gewesen. Doch nun schien sie wie aus einem Schlaf zu erwachen. Wie ich denn auf die Idee käme, Kinder bekommen zu wollen und wie ich mir das vorstellen würde, das ginge ja nicht im Rollstuhl und überhaupt, wie könne ich den Kindern sowas antun? Ich könne schließlich nicht einmal alleine für sie sorgen, bräuchte bei allem Hilfe. Was ich machen würde, wenn mein Kind im Sandkasten fiele? Wie ich einen Kinderwagen schieben wolle? Und ob ich auch einmal nicht nur egoistisch an mich selbst, sondern auch an die Kinder gedacht hätte? Die würden in der Schule für eine behinderte Mutter gemobbt werden und vielleicht wären sie noch selbst behindert, das wisse man ja nie.

Ich würde gerne sagen, dass mich das kalt gelassen hat, dass etwas treffendes entgegnet habe. Stattdessen habe ich einfach nichts gesagt. Ich habe mich nicht rechtfertigt, kein Gegenargument gebracht, ich bin nicht aus der Haut gefahren. Ich bin gegangen. Ich wollte ihr nicht noch diesen Sieg gönnen, mich in aller Öffentlichkeit weinen zu sehen. Ich wollte ihr nicht zeigen, wie sehr sie mich damit verletzt hat, dass sie eine Schwelle der Intimität übertreten hat, die sie nicht hätte übertreten dürfen. Und ich bin manchmal einfach zu müde, immer und überall dafür kämpfen zu müssen, dass Leute einmal versuchen, die Perspektive zu wechseln.
Gerne würde ich sagen, dass ich das in dieser Art nur einmal erlebt habe, aber leider nicht. Und ich weiß, dass es auch in Zukunft genauso werden wird. Dass mich spätestens, wenn ich irgendwann einmal schwanger sein werde, die Leute mit Ratschlägen überhäufen werden, mit Tipps und Tricks und auch mit der Kritik, wie ich so etwas tun kann.

Mittlerweile antworte ich darauf stets mit der gleichen Antwort und ernte nicht selten Irritation: „Die Erblichkeit meines Querschnitts beträgt 0%, die des IQ 50%. Ich frage mich wessen Kinder uns nun leidtun müssen.“